Ina Schildbach
 

 Warum "Armut" als zentrales Thema?

Als Gott Kain nach dem Verbleib seines Bruders fragt, antwortet Kain mit einer eisigen rhetorischen Frage, deren Echo sich durch die Zeitalter zieht: ,Soll ich meines Bruders Hüter sein?‘ Die Frage schließt Kain nicht nur aus der menschlichen Bruderschaft aus. Die Tatsache, dass sie gestellt wurde, die schiere Möglichkeit der Frage, hinterlässt eine Narbe am Band der menschlichen fraternité“ (Boehm, Radikaler Universalismus, S. 34).



Das Phänomen der Armut in Deutschland und weltweit stellt aufgrund einer normativen Überzeugung den Mittelpunkt meiner Arbeit dar: Der Begriff des Menschseins ist unmittelbar mit Selbstverwirklichung im Sinne der individuellen und menschheitsgeschichtlichen Entfaltung der Vernunft verbunden. „Selbstverwirklichung“ meint hierbei also nicht den Egotrip durch Rückzug aus allem Gesellschaft- bzw. besser Gemeinschaftlichen – fast egal, ob als linke oder libertäre Spielart –, sondern den Sprung des „allgemeinen Ich“ (Hegel) von der Potenz zur Aktualität und darin eingeschlossen die Entwicklung der Gemeinschaft.
Wie jedoch bereits Hegel erkannte, steht die durch die global-kapitalistischen Sachzwänge erzeugte materielle Armut der Verwirklichung dieses empathischen Begriffs des Menschen und der Allgemeinheit entgegen. Dies gilt heute umso mehr im sogenannten Globalen Süden, in dem Menschen qua „Staatsbürgerschaftsstrafe“ (Milanović) häufig zu einem Leben in Armut verdammt sind.
Meiner Überzeugung nach manifestiert sich an den Ausgeschlossenen des Globalen Südens der zweifache völlige Verlust der Gattungsallgemeinheit: Die unmittelbar Betroffenen müssen um ihr Überleben kämpfen und der andere Teil der Menschheit akzeptiert diesen Zustand der Deprivation.
Dem wäre eine sich ihrer Fundamente bewusste universalistische Perspektive entgegenzusetzen. Notwendig wäre hierfür eine Verständigung darüber, dass wir eine andere Art der globalen Arbeitsteilung möchten, in der der gemeinschaftlich verfügbare Reichtums nicht dem Gewinn, sondern den Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen dient.
Zweitens ist die globale Perspektive auch deswegen nötig, um vermeintliche Antworten wie die Verteidigung des eigenen „Volksheims“ durch rechtsextreme Deutungen und / oder Neo-Kolonialismus theoretisch und praktisch auszuschließen. Als „Antworten“ können beide nur dann gelten, wenn konsequent national gedacht wird.
"Neo-colonialism, like colonialism, is an attempt to export the social conflicts of the capitalist countries" (Nkrumah, Kwame: Neo-Colonialism. The Last Stage of Imperialism, London 1970 / 2004, p. xii).
Anstatt die sozialen Konflikte auf Kosten anderer in den Globalen Süden auszulagern, sollten wir sie analysieren und auflösen – im Interesse der unter ihnen Leidenden, hier wie dort.




                    "Die liberale Welt ist die 

                                  Welt des Nicht-Gemeinsamen

                          (de Benoist 2021, S. 49, Hervorh. i. O.).